Papst Franziskus und der Umgang mit dem sexuellen Missbrauch in der Kirche – Ein Nachruf von Matthias Katsch
Als der neu Gewählte bescheiden lächelnd den Balkon betrat, die Menge mit einem einfachen „Guten Abend“ begrüßte und sich vor dem Segen zunächst selbst vor der Menge verneigte, da war ich beeindruckt und berührt. Wie viele hatte ich die Hoffnung, dass dieser ungewöhnliche Papst den dringend notwendigen Wandel in seiner Kirche einleiten würde.
Tatsächlich hat er die Türen, die von seinen Vorgängern zugehalten wurden, freigegeben und einen Spalt weit geöffnet. Fragen, die lange nicht einmal gestellt werden konnten, lagen plötzlich auf dem Tisch. Bei aller Betonung der Kontinuität mit seinem Vorgänger, welcher sich entschlossen hatte, seinen Ruhestand ausgerechnet im Garten des Vatikan und damit quasi im Rücken seines Nachfolgers zu verbringen: Aufbruch lag in der Luft.
Wenige Monate später begegneten sich im Sommer 2013 zum ersten Mal Betroffene sexuellen Missbrauchs durch Kleriker der katholischen Kirche aus verschiedenen Teilen der Welt zu einer Konferenz in Dublin. Nach den USA war Irland zu einem Epizentrum eben dieser Krise geworden, die drei Jahre zuvor in Mitteleuropa öffentlich wurde. Die versammelten Betroffenen hatten die Hoffnung, dass mit dem neuen Papst etwas in Bewegung geraten war. Zugleich war uns klar, dass ohne den konstanten Druck von Betroffenen nichts vorangehen würde.
Den andauernden weltweiten Skandal hatte Franziskus von seinen Vorgängern geerbt. Der Umgang mit den zahllosen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester, überschattete sein Pontifikat. Aus dem Skandal wurde im Laufe der Jahre eine Systemkrise, die zu lösen Franziskus nicht in der Lage war. Der Papst war oft stark in der Diagnose von Problemen und hatte ein Gespür Zeichen zu setzen – in der Umsetzung blieben seine Vorstellungen von Veränderung schwach und gingen oft nicht über Symbolismus hinaus.
Schon früh berief Franziskus eine Expertenkommission, die ihn zu dem Thema Kinderschutz beraten sollte. In der päpstlichen Kinderschutzkommission wirkten, auch das eine Neuerung, auch zwei Betroffene aus Irland und England mit. Zugleich beließ Franziskus die Verantwortung für den Umgang mit priesterlichen Missbrauchstätern ebenso wie mit Opfern, die sich an den Vatikan wandten, bei der Glaubenskongregation. Deren Präfekt, der deutsche Kardinal Gerhard Müller – von Papst Benedikt noch kurz vor seinem Rücktritt ernannt – schien immer wieder gegen die Ideen von Franziskus zu arbeiten. Frustriert von der Blockadehaltung der Kurie verließen die beiden Betroffenen schon bald wieder das Gremium.
Seit den 80er Jahren war es dem Vatikan gelungen, die Missbrauchsskandale in einzelnen Ländern wie den USA, Irland oder auch Deutschland weitgehend auf nationaler Ebene abzuhandeln. Spätestens im August 2018 war die Krise im Zentrum der katholischen Weltkirche angekommen. Auslöser war ein typisches Verhalten von Franzikus während seiner Lateinamerika-Reise, die ihn unter anderem Chile führte. Franziskus hatte sich geweigert, sich von einem Bischof zu distanzieren, dem Vertuschung und Mitwisserschaft über die Taten eines klerikalen Serientäters vorgeworfen wurden. Genervt von den ständigen Nachfragen der mitgereisten internationalen Journalisten, erklärte er, man solle ihm Belege zeigen für die Vorwürfe. Dort in Santiago de Chile hatten sich dutzende Betroffene aus Nordamerika und Europa versammelt, um die chilenischen Betroffenen den Rücken zu stärken. Auch wegen der Pressearbeit der Betroffenen, waren die Journalisten gut gebrieft und konnten die Fragen immer wieder beim Papst plazieren.
Dies hatte gewirkt: Zurückgekehrt nach Rom musste sich Franziskus zwei Wochen später entschuldigen, als ihm die Presse nachweisen konnte, dass sein Büro sehr wohl von den Betroffenen brieflich über die Vorwürfe gegen chilenische Bischöfe unterrichtet worden war. Persönlich setze Franziskus daraufhin ein bis dahin ungesehene Zeichen. Er lud die drei kurz zuvor noch kritisierten Wortführer der Betroffenen in Chile zu sich in den Vatikan ein, um eine Woche bei ihm im Gästehaus St. Martha zu wohnen.
In einem Brief an die chilenischen Bischöfe beklagte er eine „Kultur des Missbrauchs und ein System der Vertuschung“. Die Bischöfe des lateinamerikanischen Landes erklärten kollektiv ihren Rücktritt.
Kurz darauf wandte sich der Papst in einem Brief an „das ganze Volk Gottes“, also alle Katholiken weltweit und stellte fest: „Mit Scham und Reue erkennen wir als kirchliche Gemeinschaft an, dass wir nicht da waren, wo wir hätten sein sollen, dass wir nicht rechtzeitig gehandelt haben, als wir das Ausmaß und die Schwere des Schadens erkannten, der so vielen Leben zugefügt wurde“, schrieb Franziskus. „Wir haben uns nicht um die Kleinen gekümmert, wir haben sie im Stich gelassen.“
In höchster Not, durch die nicht abreißenden Meldungen aus aller Welt, lud er für Anfang 2019 erstmals die Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen zu einem Treffen nach Rom ein, um über sexuellen Kindesmissbrauch zu sprechen. Dieser Krisengipfel markierte zugleich aber auch die Grenze seines Willens zur Aufklärung und seiner Bereitschaft zu wirklicher Veränderung.
Die auch von Experten außerhalb der Kirche immer wieder beschriebenen Ursachen für die sexuelle Gewalt durch Priester wurden von einzelnen Bischöfen benannt: Der Klerikalismus, die überkommende Sexualmoral, die Bigotterie im Umgang mit Homosexualität, die mangelnde Präsenz von Frauen und generell die Ohnmacht der Laien. Doch an tiefgreifende Lösungsvorschläge wagte man sich nicht.
Auch Betroffene aus 30 Ländern, die nach dem Erfolg in Chile, eine gemeinsame Plattform unter dem Namen „Ending Clergy Abuse“ gegründet hatten, kamen uneingeladen nach Rom. Von den Beratungen blieben sie ausgesperrt. Ihre Forderung nach einer echten Null-Toleranz-Politik im Umgang mit Missbrauchstätern und deren bischöflichen Beschützern durften eine Delegation der Betroffenen im Vatikan vortragen. Zu einer Begegnung mit dem Papst kam es nicht.

Stattdessen hielt Franziskus zum Abschluss des außerordentlichen Treffens eine Rede, in der er darauf hinwies, dass sexueller Kindesmissbrauch ein weltweites Problem aller Gesellschaften sei. Statt notwendige Veränderungen anzukündigen, machte er einen Letztverantwortlichen für das Leid der Opfer aus: den Teufel.
Immer wieder gebrauchte er in seinen Reden und Interviews das problematische Argument, dass man früheres Verhalten von Bischöfen im Umgang mit Missbrauch nicht mit heutigen Maßstäben messen könne. Es klang, als ob er sich mit dieser Relativierung auch selbst exkulpieren wollte. Jedenfalls gab es immer wieder Vorwürfe von Betroffenen über sein Verhalten im Umgang mit Missbrauchstätern in seiner Zeit als Bischof in Argentinien. Seinem wichtigsten theologischen Mitarbeiter und „Ghostwriter“, Victor Fernandez, den er erst zum Erzbischof in Argentinien machte und dann als Präfekten der Glaubenskongregation nach Rom holte, wurden für sein Verhalten heftig kritisiert. Franziskus setzte sich darüber hinweg, ebenso wie über die Bedenken, die Fernandez selbst geäußert hatte, dem sein Versagen offenbar bewusst geworden war.
Mit dem Gesetz „Vos estis lux mundi“ schuf Franziskus erstmal eine Vorschrift, nach der Bischöfe für ihren Umgang mit sexuellen Missbrauchsvorwürfen zur Verantwortung gezogen werden können – eine wichtige Forderung von Betroffenen: Null Toleranz soll nicht nur für Priester gelten, die ein Kind missbraucht haben, sondern auch für den Bischof, der das vertuscht hat. Zugleich bleibt die Anwendung dieses persönlichen Gesetzes bis heute undurchsichtig. Unklar ist sogar, ob das Gesetz überhaupt schon mal zur Anwendung gekommen ist. Die Praxis der „angebotenen Rücktritte“ belässt es im Unklaren, wann und nach welchen Regeln ein Bischof bestraft wird. Mehrfach schaltete sich Franziskus auch persönlich in laufende Verfahren ein. So bleiben Willkür und Intransparenz kennzeichnend für den Umgang der Kirche mit Täter, ihren bischöflichen Beschützern und den Opfern.
Franziskus weigerte sich in den folgenden Jahren immer wieder, den systemischen Charakter der sexuellen Gewalt an Kindern, Jugendlichen und vulnerablen Personen anzuerkennen. Statt auf Änderungen von Verfahren und Prozessen zu setzen, betonte er die Bedeutung von persönlicher Haltung. Dass die Gewalt aus dem System der katholischen Kirche heraus erwächst, aus den problematischen Strukturen und Lehren, wollte oder konnte er nicht sehen.