Gastbeitrag von Karl Haucke zur Sitzung der diözesanen Aufarbeitungskommissionen  am 08.10.2024 in Frankfurt

Sehr verehrte Damen und Herren,
Guten Tag.

Zunächst gilt es, eine Vorbemerkung1 anzubringen.
Ich liebe Geschenke. Bei dem Geschenk heute Morgen, das hier übergeben wurde, bin ich allerdings innerlich und äußerlich zusammengezuckt. Während der Erläuterung der Symbolik konnte ich schon nicht mehr zuhören, hat doch das Kreuz eine eigene Symbolik der Gewalt für mich. Mein priesterlicher Täter hat mich mit solchem Kreuz und darauf bezogenen Heilsworten regelmäßig vergewaltigt; danach hatte ich dankbar zu sein ob seiner Fürsorge.

Mag sein, vielleicht können die Einladenden zu einer solchen Veranstaltung wirklich nicht auf alle Befindlichkeiten der Gäste vorbereitet sein, auch wenn es lebensbestimmende Dispositionen eines Großteils der hier Anwesenden sind. Aber für mich ist es heute und hier wichtig, mich mit diesem Hinweis zu entlasten und damit den nächsten Alpträumen vorzubeugen.

Es ist gut, dass Sie mir zugehört haben.

Zu Fragen der Betroffenenbeteiligung in den unabhängigen Aufarbeitungskommissionen (UAKs)
Sprechen wir nun, nach den erhellenden Beiträgen von Herrn Bührmann und Herrn Keupp, über die Einschätzungen der UAK-Mitglieder zum Themenbereich der Betroffenenbeteiligung.

Ich beziehe mich dabei weniger auf die Tortendiagramme der Untersuchung2, also weniger auf die quantitativen Aussagen, sondern auf die qualitativen Rückmeldungen. Und ich habe wenige Aussagen ausgewählt: Solche, die in den zeitlichen Rahmen hier passen und eine
Anschlussdiskussion versprechen. Als dritte Wortmeldung zu der gleichen Untersuchung sind Wiederholungen wahrscheinlich.
Dabei ist es ein bedeutender Sachverhalt, dass wir nicht wissen, woher genau die Antworten der Kommissionen kommen.
– Hat ein Mitglied einer Kommission vertretend für alle Mitglieder das Kreuzchen gemacht? Dann nämlich kann es sich um eine Aussage von Nichtbetroffenen über Betroffene handeln.
– Oder ist eine abgestimmte Einschätzung der Gesamt-UAK in den Fragebogen eingegangen. In diesem Falle sagen Betroffene etwas über sich selbst und dabei kann die Antwort ja wesentlich anders liegen.

Sehr bedeutsam ist das z.B. bei der Frage:
„Welche Rolle spielt die Unterstützung der individuellen Aufarbeitung für Ihre (also der Kommission) Arbeit?“
Da gibt es in den Antworten ein Einerseits – Andererseits:
Einerseits:
– Unterstützung „ist im Bistum durch Anlaufstellen verankert“, deshalb habe sie für die Aufgabe der UAK untergeordnete Bedeutung
– „Die Kommission leistet keine direkte persönliche Beratung / Aufarbeitung“
Andererseits:
– Neben Öffentlichkeitsarbeit und Beratung ist Unterstützung „eine unserer drei Hauptaufgaben.“
– „Sie ist selbstverständlich.“

Das mit der ‚Gemeinsamen Erklärung‘3 angebotene Beteiligungsmodell wird -ich weise nochmals darauf hin: Wir wissen nicht, woher die Antwort kommt- als ausreichend erlebt und mit folgenden Merkmalen beschrieben:
– „UAK nicht beschlussfähig bei Anwesenheit eines Betroffenenvertreters. Regelmäßige Besprechungen UAK / Betroffenenbeirat“
– Beteiligungsmodell „grundsätzlich ok. Betroffene sollten aber gleichrangig in den UAKs behandelt werden (auch bei Vorsitz / Stellvertretung.)“4
– „Betroffene begleiten nicht nur, sondern sind vollwertige Kommissionsmitglieder.“
– „Die Perspektive der Betroffenen spielt eine zentrale Rolle für die Entscheidungsfindung der UAK: Beschlussfähigkeit, zwingende Teilhabe an Zeitzeugengesprächen, eigenes Kapitel in den Jahresberichten, regelmäßige Gespräche UAK / Betroffenenbeirat.“
– Die Betroffenen „nehmen partizipativ an jeder Entscheidungsfindung teil und sind gleichberechtigt stimmberechtigt.“
– „Offener Meinungsaustausch und vertrauensvolle Zusammenarbeit“

In 13 Fällen hat die UAK die Betroffenenbeteiligung ausdrücklich geregelt. Die im Internet einsehbaren Materialien legen nahe, dass solche Regelungen (Statut, Geschäftsordnung) gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt wurden. Wenn es so ist, dann sehe ich darin einen bedeutenden Fortschritt im Umgang mit Betroffenen gegenüber den Jahren, als es die ‚Gemeinsame Erklärung‘ noch nicht gab.

Schließlich möchte ich doch noch auf eine quantitative Aussage eingehen – weil sie mich irritiert hat: Ich knüpfe da auch an die Ausführungen von Heiner Keupp an. Es gibt insgesamt eine Zufriedenheit in den UAKs über die zur Verfügung gestellten unterstützenden Ressourcen. Gleichzeitig können nur 13 Kommissionen berichten, dass ihnen eine Geschäftsstelle zur Verfügung steht. Die Räumlichkeiten einer Geschäftsstelle sind wohl als äußeres Zeichen einer angemessenen Ausstattung zu sehen. In nur sieben Fällen (von den 13 genannten) verfügt man über ausreichend Ressourcen.

Sehr geehrte Herren Bischöfe, so geht das nicht.

Sie verabreden mit dem Amt der/des Unabhängigen Beauftragten eine Aufgabe, in der die Verantwortung für die würdevolle Aufarbeitung tausender Menschen liegt. Menschen, die z.T. ein Leben lang darauf gewartet haben, dass ihnen zugehört wird, dass das Schweigen ein Ende hat, dass sie mindestens auf diesem Wege Gerechtigkeit erfahren.

Nach jeder Veröffentlichung einer Aufklärungsstudie tut es ihnen leid. Sie ergehen sich laut und öffentlich in Erschütterungsgetöse, in Kaskaden von Scham. Und dann sind sie nicht bereit, eine selbst gestellte und der Gesellschaft versprochene Aufgabe angemessen zu finanzieren.

Es geht dabei um mehr als die formale Absicherung der Kommissionsarbeit durch eine Geschäftsstelle. Es geht, um das mal ganz lebenspraktisch zu sagen, um meine Biografie; es geht um die Biografien derer, die hier draußen auf dem Grünstreifen vor dem Haus5 und draußen im Land unterwegs sind. Oder ausgelaugt von den lebenslangen Belastungen des Betroffenseins danieder liegen. Und es geht, wenn die UAKs denn auch an der Veränderung von Strukturen arbeiten dürfen oder solche zumindest empfehlen können, um all die Kinder, die sich heute und in Zukunft den immer noch sehr mächtigen Mitarbeitern Ihrer Institutionen in katholischer Hinwendung anvertrauen.

Aufarbeitung ist Zukunftsgestaltung. Und spätestens jetzt, nach den Versprechungen in der ‚Gemeinsamen Erklärung‘, sind Sie in der Verantwortung.

Nehmen sie diese Verantwortung endlich umfassend wahr.

Hier noch eine Feststellung, die ich gestern nach der Zusammenkunft mit den Betroffenen hinzufügen musste.
Ja, ich musste. Denn dieser nachmittägliche Diskurs hat die freundliche Sichtweise über die Betroffenenbeteiligung bei der Arbeit in den UAKs, die ich vor wenigen Minuten dargestellt habe, völlig in Frage gestellt. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie:

19 UAKs waren gestern durch Betroffene vertreten. Neun davon (sic) blicken nicht so glücklich in den UAK-Himmel, wie die Antworten aus der Evaluation nahelegen. Die Rückmeldungen aus dem gestrigen Gespräch ergeben sehr deutlich, dass der Fragebogen in rund der Hälfte der gestern vertretenen Kommissionen den Betroffenen in den UAKs überhaupt nicht bekannt war. Gern hätten sie ihre tatsächliche Meinung zur
Betroffenenbeteiligung zum Ausdruck gebracht – wenn sie gefragt worden wären.

Um es unmissverständlich zu sagen: Viele der Betroffenen in den UAKs haben etwas anderes erlebt als Sie, die Vorsitzenden, in den Evaluationsbögen geschrieben haben. Wie kommt es zu diesem Unterschied in Fremd- und Selbstwarnehmung?

Ich frage noch deutlicher,
und jetzt in einer anderen Nuance meiner Kommentatorenrolle,
und jeder hier mag sich seinen Teil dieser Frage anziehen,

Haben Sie mich als Betroffenen,
haben Sie uns Betroffene sexualisierter Gewalt,
haben Sie unser Anliegen, gehört zu werden,
haben Sie den Zweck von Aufarbeitung,
nämlich sichere Räume für Kinder zu schaffen,

haben Sie dies alles überhaupt verstanden?
Haben Sie es dort an dieser ganz unleiblichen Stelle, wo da bei uns die Verletzungen liegen,
haben Sie es dort verstanden?
Für heute danke ich Ihnen für Ihr Zuhören

1 – Diese Vorbemerkung bezieht sich auf ein Geschenk voll christlicher Kreuzessymbolik, das der Referentin und dem Referenten des Vormittags von Vertretern der Veranstaltungsleitung übergeben wurde.
2 – Bührmann u.a.: Fragen im Rahmen der Zwischenevaluation der gemeinsamen Erklärung, unveröffentlicht (Frankfurt 2024)
3 – „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz, vertreten durch den Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes“, 28.April 2020, https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-074a-Gemeinsame-Erklaerung-UBSKM-Dt.-Bischofskonferenz.pdf, zuletzt aufgerufen am 15.12.2024
4 – Die in §2.5 der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ ausgewiesene Maßgabe „Die oder der …Vorsitzende darf weder der Gruppe der Betroffenenvertretungen … angehören…“ folgt der spezifischen Absicht, Betroffenen nicht leitende Verantwortung zu übertragen für die Aufarbeitung jener Institution, unter deren Herrschaft sie gelitten haben.
5 – Vor dem Tagungshotel fand eine vom ‚Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen‘ organisierte Demonstration statt, um zumindest symbolisch die in der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ verankerte Öffentlichkeit der Tagung herzustellen.

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