Zehn Jahre „Missbrauchsskandal“

Vor zehn Jahren sind wir als kleine Gruppe von Betroffenen am Eckigen Tisch mit drei Forderungen an die Öffentlichkeit gegangen:

Aufklärung, Hilfe und Entschädigung.

Diese drei Forderungen richteten sich zunächst an den Jesuitenorden und die katholische Kirche. Inzwischen wissen wir, dass sie auch für Menschen, die in anderen Kontexten sexuelle Gewalt erfahren haben, von großer Bedeutung sind:

An allen drei Baustellen arbeiten wir heute noch.

In Bezug auf die katholische Kirche. Aber auch was andere Institutionen und Kirchen angeht. Und vor allem was die große Zahl der Opfer aus dem Kontext von Familie betrifft.

Aufklärung und Aufarbeitung von institutionellem und gesellschaftlichem Versagen beim Schutz von Kindern in der Vergangenheit verläuft immer noch sehr zäh. Es fehlen uns Instrumente. Vielfach fehlt es auch am Willen oder der Einsicht, dass Aufarbeitung notwendig ist – gerade auch im Blick auf die notwendigen Anstrengungen zur Prävention.

Die Hilfesysteme haben noch längst nicht die Bedarfe und Bedürfnisse von Betroffenen im Blick. Die Reform des OEG kann allenfalls halb zufriedenstellen. Die Versorgung mit Beratungsstellen ist nicht wirklich besser geworden, vor allem die Finanzierung dieser wichtigen Angebote ist häufig noch immer prekär.

Für die Opfer sexueller Gewalt im Kontext Kirche gibt es bisher immer noch kein spezialisiertes unabhängiges Beratungsangebot. Wie in der Vergangenheit müssen das die Betroffenen selbst organisieren. Wir versuchen das gerade.

Und die Entschädigungsfrage ist in der katholischen Kirche immer noch hochumstritten. Die Betroffenen warten. Die Bischöfe streiten.

Die gute Nachricht: Das Thema sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist in dieser Zeit nicht von der Agenda gefallen. Nicht in der Kirche und nicht in der Gesellschaft.

Das ist ein echter Erfolg, zu dem viele beigetragen haben: Die Betroffenen, die sich immer und immer wieder eingebracht haben, sich organisiert haben, sich fachlich und politisch engagiert haben. Aber auch die Strukturen, die wir in diesen Jahren entwickelt haben: wie der unabhängige Beauftragte, der Betroffenenrat, die Aufarbeitungskommission. Oder zuletzt die Bundeskoordinierung der spezialisierten Fachberatungsstellen.

Die schlechte Nachricht:

Auch zehn Jahre nach der Aufdeckung sexueller Gewalt in zahlreichen Bildungseinrichtungen und einer verstärkten Debatte über Missbrauch von Kindern im Kontext ihrer Familie wird sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht als zentrale gesellschaftliche Herausforderung für unser Land angenommen.

Beide Kirchen haben in den vergangenen Jahren Aufklärung und Aufarbeitung über den Umgang ihrer Institutionen mit Verbrechen ihrer Mitarbeitenden vielfach verschleppt. Erst jetzt beginnen sie sich, ihrer Verantwortung zu stellen und machen sich an unabhängige und umfassende Aufarbeitungsprozesse.

Das Recht von Betroffenen auf Aufdeckung von Verantwortung und die Untersuchung von Ursachen für institutionelles Versagen auch staatlicher Stellen ist immer noch mehr Anspruch als Wirklichkeit.

Immer noch werden die Opfer eher stigmatisiert, als dass ihnen notwendige Hilfe und Unterstützung angeboten wird. Das Bewusstsein für die „Normalität“ von sexuellem Kindesmissbrauch ist zwar gewachsen – vor allem durch die Hartnäckigkeit von Betroffenen und ihre neugewonnenen Unterstützer*Innen – aber wir sind institutionell wie als Gesellschaft noch weit davon entfernt, diese Gewaltform in der kommenden Generation zu überwinden. Wir setzen uns noch nicht einmal Ziele, geschweige denn, dass wir ausreichend Mittel dazu bereitstellen. So werden wir den Kampf nicht gewinnen.

Wir müssen uns der Überwindung dieser Form der Gewalt in einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung stellen. Das sind wir den Opfern der Vergangenheit schuldig. Viele haben sich 2010 zu Wort gemeldet, weil sie ihren Beitrag leisten wollten, damit Kinder und Jugendliche heute besser geschützt werden. Wir sind diesem Anspruch noch lange nicht gerecht geworden. Wir müssen ihn einlösen. Für die erwachsenen Betroffenen, die gesprochen haben und für die Kinder und Jugendliche, die heute noch in Gefahr sind oder bereits Opfer geworden sind und auf Hilfe warten.

Matthias Katsch

28. Januar 2020