Warum schreibe ich Ihnen?

Warum schreibe ich Ihnen?

Dafür habe ich zwei Gründe:

möchte ich meiner Bewunderung Ausdruck geben für Ihre Aktivitäten hinsichtlich der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs durch klerikale Bedienstete.
da ich selbst Betroffener bin, habe ich den Entschluss gefasst, mich einzureihen in das Kollektiv der Geschändeten und dafür zu kämpfen, dass eine ehrliche und schonungslose Aufklärung möglich wird, auch noch nach so langer Zeit. Es hat sich gezeigt, dass die Aufdeckung dieses humanitären Problems nicht allein der katholischen Kirche überlassen werden darf.

Ich darf mich kurz vorstellen:

Ich bin 1946 in Heidelberg geboren und war von 1957 – 1959 im Jesuitenkolleg St. Blasien als Internatsschüler untergebracht. Es entsprach der Vorstellung meiner Eltern, die in Mannheim lebten, dass ich an dieser traditionsreichen und renommierten Schule Abitur machen sollte.  Bereits nach kurzer Zeit aber hatte ich erhebliche Probleme mit der dort abverlangten und bedingungslos erwarteten, paramilitärischen Disziplin.

1958 begannen die Missbrauchsversuche an meiner Person durch mindestens drei Präfekten/Patres der jeweiligen Abteilungen , denen ich meinem Alter entsprechend anvertraut worden war. Diese Erfahrungen, die ich natürlich in keiner Weise einzuordnen wusste, führten bei mir zunächst zu einem schleichenden, dann aber recht bald zu einem rasanten Leistungsabfall in der Schule, der dann schließlich in eine Leistungsverweigerung mündete. Ursache waren Schuldgefühle mit Konzentrationsstörungen, Phasen tiefer Traurigkeit und ein abgrundtiefes Gefühl des totalen Verlassenseins und der Verlorenheit.

Das Gefühl, das sich bei Ihnen als  Missbrauchsopfer eingestellt hat und das Sie als: „ein Leben wie hinter Glas“ treffend charakterisiert haben, ist mir nicht fremd und kann ich bestens nachvollziehen.

Da ich mich niemandem anvertrauen konnte (auch meinen Eltern nicht, die hatten ja nur das Beste gewollt), wurde ich immer renitenter und unbeugsamer. Ein Teufelskreis begann. Meine Gedanken kreisten von nun an nur noch um die eine Frage: wie komme ich hier raus?  Das wiederum triggerte das Bedürfnis der Erzieher, mich immer und immer wieder körperlich zu züchtigen (Stockhiebe auf die Hände, den nackten Po u.ä.), zunehmend kombiniert mit sexuell geprägten Handlungen, bis hin zu mehreren Penetrationsversuchen.

Es war die Hölle in einem, von außen betrachtet, geschützten Umfeld.

Das Ganze wurde von meiner Seite und in der Konsequenz dann auch von der des Klerus immer schlimmer und unerträglicher, sodass die Internats- und Schulleitung schließlich zum  Ende des Schuljahres 1959 sich keinen Rat mehr wusste und über mich das „consilium abeundi“ verhängte.

Das war zunächst für mich wie eine Erlösung. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass mir im Abschlusszeugnis bescheinigt wurde: „ in einer Gemeinschaft nicht zu erziehen“ und dass dieses Statement mir später bei meiner Kriegsdienstverweigerung  sehr hilfreich zu Gute kam.

Allein die Enttäuschung meiner unwissenden Eltern war immens. Daraus erwuchsen innerfamiliäre Spannungen, da ich nicht in der Lage war, mit ihnen über das Erfahrene zu sprechen. Ein Verdrängungsmechanismus kam in Gang und ließ mich den Albtraum „St.Blasien“ allmählich vergessen.

Erst 2010, ich hatte zwischenzeitlich Medizin studiert, nach dem Scheitern einer ersten Ehe eine Familie gegründet und war mit meiner Chirurgischen Facharztausbildung längst fertig und Chefarzt einer Chirurgischen Klinik, las ich in der Tageszeitung „Mannheimer Morgen“ (06.02.2010) einen Artikel zum Missbrauchsskandal in den 60er in St. Blasien. Er trug die Überschrift: „Die Kirche ist für mich gestorben“. Dieser Artikel hat mich damals veranlasst, mich zu „outen“ und mit der den Jesuitenorden vertretenden RA URSULA RAUE Kontakt aufzunehmen. Ich wurde schließlich dann 07.2011 mit der „Anerkennungszahlung“ von € 5.000,-  bedacht.

Das ist also grob umrissen meine Geschichte.

Der Ablauf und vor allem das Null-Ergebnis des „Anti-Missbrauchgipfels“ vom Februar in Rom hat mir einmal mehr gezeigt, wie weit die Kirche mit der Aufarbeitung dieser Katastrophe gekommen ist. Seit meinen persönlichen Erfahrungen hat sich in 50 Jahren in puncto Aufklärung zum Problem seelenlose, häufig sexuell geprägte Erziehung, physische und psychische Züchtigung und handfester sexueller  Missbrauch kaum etwas geändert. Allein das Phänomen, dass immer mehr ans Tageslicht kommt, ist eine erfreuliche Entwicklung, dass immer mehr Gedehmütigte die Kraft aufbringen, zu berichten, welche Schmach ihnen in kirchlichen Einrichtungen angetan wurde.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass in den 50er Jahren im Jesuitenkolleg St. Blasien  körperliche und psychische Züchtigung, gerne kombiniert mit Missbrauchsversuchen, gang und gäbe waren. Ich kann die Dimension nicht beziffern. Aber es sind mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich mehr Fälle, als sie aus dem  Kolleg St. Blasien bislang ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gelangt sind. Mir scheint, dass diese Einrichtung der Jesuiten noch niemals gebührend im Focus von Ermittlungen stand.

Prof. Dr.med. Hans- Wolfgang Menges

Aachen