Unfriedliche Weihnachtszeit
Wenn es ums Geld geht, so scheint es, stehen Staat und Kirche treulich vereint. Gegen die Opfer.
Etwa fünfhunderttausend Kinder und Jugendliche wurden in den 50er und 60er Jahren von den staatlichen Jugendämtern in überwiegend von den beiden Kirchen betriebene Heime eingewiesen. Eine Aufsicht über die Zustände in den kirchlichen Einrichtungen durch den Staat fand nicht statt.
Tausendfach wurden Kinder und Jugendlichen dort systematisch gequält und misshandelt, durch Zwangsarbeit ausgebeutet und vielfach auch sexuell missbraucht. Deshalb stehen heute Bund, Länder und Kommunen zusammen mit den Kirchen und ihren Sozialkonzernen Caritas und Diakonie in der moralischen Pflicht die Opfer zu entschädigen.
Zwei Jahre tagte ein „Runder Tisch Heimerziehung“ und betrieb Aufklärung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Geheimniskrämerei begleitete die Arbeit des Gremiums, dem neben zahlreichen Vertreter der Täterseite auch drei Heimkinder angehörten, bis zum Schluss. Nicht mal die Heimkinder wissen ganz genau, welchem Abschlussdokument sie am Freitag eigentlich zugestimmt haben und das da am heutigen Montag veröffentlicht wird.
Die wichtigste Lehre aus dem Projekt lautet daher schon heute: ein Runder Tisch ohne öffentliche Beteiligung ist ein Widerspruch an sich. So kann er weder eine befriedigende Lösung im Sinne der Opfer finden, noch den Konflikt zwischen Täter- und Opferseite befrieden. Dazu wäre ein öffentlicher Prozess der Sühne und Versöhnung nötig, keine Hinterzimmer-Kungeleien, bei denen um Formulierungen gefeilscht wird, die das Unrecht zwar verbal anerkennen sollen, ohne jedoch weitergehende Ansprüche der Opfer zu begründen.
Ein Runder Tisch ohne Öffentlichkeit ist sinnlos. Der Prozess an einem solchen Tisch muss dazu beitragen, eine öffentliche Debatte und Reflexion in Gang zu bringen, Anerkennung für die Opfer auszusprechen und so weit es geht eine Befriedung zu erreichen. Das immer wieder gern benutzte Argument, die armen Opfer durch die Diskretion vor der bösen Öffentlichkeit schützen zu müssen, ist so falsch wie scheinheilig: es nützt nur der Gesichtswahrung der Täter-Institutionen. Viele Betroffene erleben die öffentliche Wahrnehmung stattdessen als Befreiung, als Anerkennung, als Coming Out.
Natürlich können und wollen nicht alle Opfer offensiv mit dem umgehen, was ihnen angetan wurde. Doch gerade weil nicht alle Opfer dazu in der Lage sind, wäre eine stellvertretende Verhandlung an einem Runden Tisch sinnvoll. Dazu müsste er aber eben öffentlich tagen und seine Arbeit transparent machen.
Wie armselig stellt sich daher heute das Ergebnis aus Sicht der Betroffenen dar: ihr Leid ist in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Eine ehrliche Diskussion über die Verantwortung der Gesellschaft für das verdrängte Leid in den von willigen Kirchenleuten betriebenen Zwangsanstalten hat es nicht gegeben. Die Kirchen sind gerade mit dem Aufarbeiten des Kindesmissbrauchs in ihren Schulen beschäftigt, und sind zum Leid der Kinder in ihren Heimen völlig sprachlos.
Statt einer großzügigen Entschädigung, die versucht Unrecht mit Anerkennung zu begegnen und Ausgleich für den Lebensschaden der Betroffenen Heimkinder anzubieten, soll es Zahlungen von zwei noch zu schaffende Stiftungen geben, die vorrangig der Finanzierung von Rehabilitationsmaßnahmen und dem Nachzahlen von Rentenbeiträgen dienen sollen. Während die Zahlungen an die Zwangsarbeiter in Osteuropa, die immer wieder gerne als Vergleich herangezogen werden, von der Kaufkraft her wenigstens durchschnittlichen Jahresgehältern in jenen Ländern entsprachen, wirken die heute genannten Beträge zwischen 2000 und 4000 Euro für die Heimkinder nur noch armselig.
Und das ist wirklich symbolhaft: als Symbol nämlich dafür, dass die Missachtung durch Staat und Gesellschaft weitergeht − von den Kirchen gar nicht zu reden. Die sind ja so bedürftig, dass die Bundesländer ihnen Jahr für Jahr mit 450 Millionen Euro die Gehälter ihrer Bischöfe und Prälaten finanzieren müssen. Und eine Berücksichtigung der jedes Jahr vom Staat für die Kirchen eingezogenen Mitgliedsbeiträge von etwa 10 Milliarden Euro für die Entschädigung der Opfer kirchlicher Praxis, wird von den Verantwortlichen kategorisch abgelehnt.
Ein Blick nach Irland zeigt, dass es anders geht. Über 2 Milliarden Euro haben dort Staat und Kirche zusammengelegt. Über die dort bisher geleisteten Entschädigungen für Heimkinder, die Opfer von Misshandlung, Zwangsarbeit und Missbrauch wurden, berichtet die staatliche Kommission, die die Zahlungen seit 2002 abwickelt, auf ihrer Website.
Danach sind in rund 13.200 Fällen Entschädigungen bewilligt worden, nach Schweregrad des erlittenenen Unrechts bzw. der Auswirkungen gestaffelt. Die Mehrzahl der Beträge liegt zwischen 50.000 und 100.000 Euro (ca. 50% der Fälle) bzw. bis zu 50.000 (ca. 30%). Im Einzelfall wurden bis 300.000 Euro geleistet.
Berücksichtigt werden von der Kommission die Taten selbst mit den durch sie hervorgerufenen physischen und psychischen Beschädi- gungen, die emotionalen und sozialen Auswirkungen auf das Leben der Opfer und die Verluste die dadurch bezogen auf Arbeitsleben und Lebenschancen bewirkt wurden. Ausgaben für medizinische Behand- lungen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie mögliche Anwaltskosten werden ebenfalls berücksichtigt.
Im Bericht für Juli 2010 wird ein Betrag von 62.860 Euro als Durchschnittszahlung angegeben. Das bedeutet, von der Kommission wurden bisher 829 Millionen Euro an die Betroffenen ausbezahlt.
Für die im nächsten Jahr anstehenden Beratungen und Entscheidungen an dem anderen Runden Tisch – dem zum Thema Kindesmissbrauch, unter anderem in kirchlichen und sonstigen Bildungseinrichtungen – lässt das nichts Gutes ahnen.
Das Unrecht an den Heimkindern und Missbrauchsopfern stinkt zum Himmel. Hoffentlich erinnern sich die braven Normal-Christen daran, wenn sie in wenigen Tagen der Geburt des Kindes gedenken, das ihnen zum Heiland wurde. Und vielleicht ist es dem einen oder anderen Vertreter des amtlichen Christentums am Ende doch ein bisschen peinlich, wenn er zu Weihnachten von der Erlösung der Welt durch ein Kind predigt, aber zugleich den konkreten Menschen, die als Kinder und Jugendliche zu Opfern seiner Kirche wurden, ein erlösendes Wort versagt. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.