Offene Nachricht an Herrn Kardinal Marx
Sehr geehrter Herr Kardinal Marx,
gestern sah ich im Fernsehen („Frontal 21“ und Nachrichten) den Bericht mit Ihnen in Sachen Ergebnisse der Missbrauchsstudie. Mir wurde richtig schlecht nach allem, was ich leibhaftig von Seiten der Kirche erleben musste. Sie wollen endlich was für die Opfer tun, wie Sie versprechen. Das klingt alles gut und schön, doch meinen Sie es wirklich ernst damit? Ich habe in meinem eigenen Verfahren so viel Hartherzigkeit, Unbarmherzigkeit, Herablassung, nicht eingehaltene Versprechungen und offene Lügen durch Ihre Vertreter und Kollegen in der Kirche erlebt, dass es mir schwer fällt, Ihnen gegenüber jetzt nicht anmaßend zu werden und Sie nicht der Heuchelei zu bezichtigen. Vielleicht meinen Sie es ja wirklich ernst. Doch wie kann ich Ihnen glauben? Anbei finden Sie drei Schreiben des Erzbistums Köln. Beantworten Sie mir doch mal folgende Fragen:
finden Sie das Verhalten Ihrer „Kollegen“ oder Glaubensbrüder richtig so? Was glauben Sie, hält wohl Jesus davon?
Nehmen Sie zum Beispiel das Schreiben des Generalvikars des Erzbistums Köln vom Juli 2015: „Aus unserer Sicht abschließend geklärt“ – wie unbarmherzig, unchristlich und unvermögend in Fragen menschlicher Einfühlsamkeit muss so ein Mensch sein, so etwas einem Opfer zu schreiben. Für mich ist nichts abschließend geklärt, denn ich bekam „lebenslänglich“, wie so viele andere (tausende und abertausende) Opfer auch. Ich fühle mich ein Stück weit um mein Leben betrogen, um das bißchen Normalität, auf gefestigtem wirtschaftlichem Boden eine Frau finden zu können und eine Familie gründen zu können. Ist das Gründen einer Familie nicht eine christliche Tugend, die niemand behindern sollte? Ich kämpfe bis heute um gesellschaftliche wie berufliche Teilhabe und darum, endlich meine unverschuldete Abhängigkeit von Sozialamt und Steuerzahler beenden zu können. Seit Jahren ringe ich mit dem Staat um das bißchen Entschädigungsrente, und der Staat versucht alles, seine Kosten zu minimieren. Ich (und wiederum unzählige andere) werden in ihren Verfahren routiniert gedemütigt und erleben Dinge, die unfassbar sind. Wie ich erst vor einiger Zeit erfuhr, hat ein Sozialbeamter des Landes Niedersachsen offen darüber berichtet, dass das Land regelmäßig ein festes Team von externen Ärzten und Gutachtern beauftragt, die stets die „zu teuren“ Ansprüche abschmettern und ihre Gutachten sogar ungeniert voneinander kopieren, um auf diese Weise gleichzeitig noch mehr Fälle abschmettern zu können. Hinter jedem Fall steht ein menschliches Schicksal, aber das interessiert keinen. Das Ganze vollzieht sich einfach so, aber die Kirche schweigt – und fällt ihren Opfern damit ein weiteres Mal in den Rücken…
So viele einflussreiche Personen habe ich um Hilfe gebeten, darunter Persönlichkeiten wie Frau Hannelore Kraft, Ministerpräsidenten Malu Dreyer, und alle ließen mir mitteilen, dass ich mich an Sie bzw. die Kirche wenden soll. Sie rieten mir, nicht zu verzweifeln, sondern weiterhin und standhaft für meine Entschädigung zu kämpfen.
Wie sehen Sie das eigentlich: sollte die Kirche nicht generell Barmherzigkeit zeigen und den Opfern ihrer Vertreter eine sichere und sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle zur Verfügung stellen, diese nötigenfalls sogar eigens einrichten? Wieso muss eigentlich der Steuerzahler die Grundsicherung der Opfer bezahlen, und wieso werden die Opfer damit obendrein Zeit ihres Lebens diskriminiert, indem sie nichts besitzen und keinerlei Vermögen aufbauen dürfen (siehe Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherung)???
die Kirche (katholische wie evangelische) sollte endlich ernsthafte Verantwortung auch für frühere Kinder und heutige Erwachsene übernehmen: die Kirchen bekommen so viele Steuergelder zur Verfügung, lassen sich sogar ihre Mitarbeiter vom Steuerzahler bezahlen, doch die Entschädigungen sind erbärmlich im Vergleich zu dem Leid der Opfer. Diejenigen, deren Gesundheit ruiniert wurde und die nicht mehr arbeiten können, sollten eine richtige und vor allem aufrichtige Entschädigung erhalten, welche sie frei von ihrer unverschuldeten Abhängigkeit vom Sozialamt und Steuerzahler macht. Das wäre eine echte „Anerkennung des erlittenen Leids“!
Ich bin nur einer von vielen, der sein Erlebnis mit der Kirche hat und seit Jahren hingehalten wird. Mittlerweile bin ich unendlich wütend über das unchristliche und unehrliche Gebaren der Kirchenoberen. Aufgrund meiner ganzen Erlebnisse in der Kindheit bin ich schwerbehindert und an einer PTBS erkrankt. Ich beziehe volle Erwerbsminderungsrente und möchte doch nichts anderes als arbeiten- Inklusion erfahren auf Augenhöhe mit gesunden Menschen. Doch die Kirche zeigt sich unbarmherzig und unchristlich. Was ich Ihnen jetzt schreibe, verbittert mich dabei zutiefst:
der heutige Erzbischof von Hamburg, Dr. Stefan Heße, hatte in seiner früheren Funktion als Generalvikar des Erzbistums Köln dem damaligen Präses und Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Herrn Nikolaus Schneider, kurz vor dessen Ruhestand vor wenigen Jahren persönlich zugesichert, mir konkret vor Ort in meiner Heimatstadt bei der Eingliederung zu helfen (den Schriftverkehr habe ich sorgfältig archiviert). Der oberste Vertreter der Evangelischen Kirche hatte sich zuvor für mich eingesetzt, wie im Übrigen auch Frau Käßmann und andere bedeutende Persönlichkeiten. Doch von Seiten der Katholischen Kirche gab es nur leere Versprechungen, und in Wirklichkeit geschah nichts: ich warte schon so lange auf die zugesicherte und versprochene Hilfe der Katholischen Kirche. Ich möchte so gerne in das Erwerbsleben zurück und nicht mehr länger vom Steuerzahler abhängig sein.
Was wäre eigentlich falsch daran, wenn die Kirche grundsätzlich für Personen, die durch ihre Vertreter geschädigt wurden, soziale Verantwortung übernähme, und sei es durch berufliche Integration? Aber die Kirche will offenbar nicht wirklich helfen, sondern nur ihre Macht ausbauen und die Menschen mit Allgemeinfloskeln einlullen, sie „berauschen“.
Heuchelei und vornehm versnobtes Schweigen, wo immer man hinschaut. Es ist erbärmlich! Ich befürchte, dass es immer so weiter gehen wird, denn die Führungspersonen decken einander und erteilen sich gegenseitig gegen uns Menschen an der Basis ihre Absolution…
Offen gefragt: wäre es nicht ein Akt christlicher Fairneß, wenn die Kirche den einstigen Kindern, die im Bereich der Kirche so Schlimmes erleben mussten, dass diese nachhaltig in ihrer gesundheitlichen wie beruflichen Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt wurden, in aufrichtiger Anerkennung ihres erlittenen Leids eine berufliche Perspektive zur Eingliederung ermöglichen würde?
Für die Kirche wäre das lediglich eine Belastung, die sie spielend aus ihrer Portokasse leisten könnte. Wievielen Kindern von einst könnte man aufrichtig ihre Würde zurückgeben, wenn man sie von der Last des Sozialamtes (und umgekehrt) befreien würde und sie als wahrhafte „Anerkennung des erlittenen Leids“ beruflich integrieren würde? Das wäre doch echt christlich, oder nicht? Wahre christliche Barmherzigkeit bemisst sich an den Taten, weniger an leeren Worten, ist meine persönliche Überzeugung… Wie sehen Sie das?
Schauen Sie sich gerne auch mal die beiden beigefügten E-Mails von 2014/2015 (Büro des EKD-Ratsvorsitzenden und Schreiben des Persönlichen Referenten des Bischofs von Osnabrück) an und fragen sich, wie diese zusammenpassen. Sie sind doch ein gläubiger Christ, oder nicht? Was meinen Sie: sieht Jesus uns nicht genau an, jeden Einzelnen von uns, und wird er uns mehr an unseren Taten messen oder an unseren Worten???