Ihr tut etwas Richtiges, etwas Gutes und seid Jesus wahrscheinlich näher als es die katholische Kirche aktuell ist!
Auch ich und mein zwei Jahre jüngerer Bruder wurden von einem kath. Pfarrer über Jahre schwer sexuell
missbraucht. Wir konnten uns zum Glück im Teenager-Alter, durch die Versetzung des Täters in eine andere
Gemeinde von unserem ihm lösen. Bis heute (fast 30 Jahre später) haben mein Bruder und ich nie wirklich
miteinander darüber gesprochen.
Mein Bruder kam vor ca. 13 Jahren auf mich zu und teilte mir mit, dass er sich entschieden habe Strafanzeige zu
erstatten und wollte von mir wissen, ob ich mich dieser anschließen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen sehr
stabilen Verdrängungsmechanismus, welcher mir erlaubte ein (fast) normales Leben zu führen. Ohne ihn, hätte ich
wohl noch weiter geschwiegen.
Das Gespräch, dass er mit meinen Eltern führte, die bis dato von nichts wussten, verlief deutlich harscher. Er warf
wohl meinen Eltern direkt an den Kopf, dass er/wir von unserem ehem. Gemeindepfarrer missbraucht worden seien
und er Strafanzeigen erstatten würde und sie nichts dagegen tun könnten. Er ging wohl davon aus, dass, da wir
christlich erzogen worden waren und div. Familienmitglieder in der Gemeinde tätig waren, meine Eltern gegen eine
Strafanzeige gewesen wären. Dem war nicht so und wir konnten auf Ihre Unterstützung zählen.
Es folgten mehrere Termine bei der örtlichen Kriminal-Polizei bei denen ich meine Aussage zu Protokoll gab.
Im Zuge der Befragung wurde mir durch einige Fragen bewusst, dass es noch mehr Opfer gab.
Es wurde ein Haftbefehl ausgestellt und der Pfarrer in Haft genommen. Bevor der Prozess aber beginnen konnte
erhängte er sich in seiner Zelle.
Kurz darauf erhielt ich noch einen verzweifelten Anruf der Schwester des Täters, die meinen Bruder und mich der
Lüge bezichtigte und mich fragte ob es hätte soweit kommen müssen… ein Faustschlag wäre nicht so schmerzhaft
gewesen.
Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
Wir erhielten die damalige Standard-Summe in „Anerkennung des Leids“ und die Bitte darüber in Zukunft
Stillschweigen zu bewahren.
Für mich kehrten einige Jahre der vermeintlichen Ruhe ein. Ich funktioniere im Beruf, ich funktioniere im
Privatleben. Über das „Funktionieren“ komme ich aber nur selten hinaus.
Ich würde gerne mit meinen Kindern mehr spielen, lachen und Blödsinn machen, sie in den Arm nehmen, doch es
fällt mir unsagbar schwer und gelingt mir nur selten ehrlich.
Wir als Opfer kämpfen an vielen Fronten gleichzeitig, nicht nur mit der Vergangenheit, sondern jeden Tag in unserem
Leben. Unbetroffene lesen unsere Briefe und bekommen vielleicht eine kleine Ahnung davon, wie es uns geht.
Meiner Meinung wird aber dem Umfeld der Geschädigten zu wenig Aufmerksamkeit zu Teil. Unter Ihren
veröffentlichen Leserbriefen habe ich bisher keinen gefunden, der von den Eltern eines Opfers verfasst wurde.
Welche Vorwürfe machen sich die Väter und Mütter, die nicht erkannt haben, was unter ihren Augen geschehen ist?
Welche Zweifel plagen sie, ob ihre Kinder ihnen dieses Versagen verzeihen können?
Ich habe meinen verziehen und gebe ihnen heute keine Schuld daran, gesagt habe ich ihnen das bis heute nicht.
Meine Aussage bei der Kriminal-Polizei machte ich bei Frau F. an einigen Tagen. Wie ich später erfahren habe, hat sie
kurz nach der Einstellung unseres Falles die Abteilung/Stelle gewechselt. Das „Warum“ kenne ich nicht, ich glaube,
dass sie die Konfrontation mit dem Leid der Opfer nicht länger ertragen konnte. Eine Person, die sich sicherlich mit
den besten Absichten in diesen Sumpf gewagt hat und noch herauskam bevor sie darin unterging. Vielleicht liest sie
diesen Brief irgendwann und ich möchte ihr dafür danken, dass sie es versucht hat.
„Danke, Frau F., sie waren die erste Person, der ich mich offenbarte. Sie waren der Mensch, der mit mir die ersten
Schritte auf diesem langen Weg ging. Sie haben gegeben was Sie konnten und mehr darf niemand verlangen.“
Wo erhalten Menschen wie Frau F. die „Anerkennung des Leids“, dass sie auf und mit sich nehmen?
Wie viele Mitarbeiter des „Eckigen Tisches“, des „Weißen Rings“, der „Aufarbeitungskommission“ und der vielen
anderen Anlaufstellen müssen sich die Leid- und Lebensgeschichten der Opfer anhören und damit leben. Auch wenn ich deren Hilfen selbst bisher nicht in Anspruch genommen habe, so gebührt Euch allen mein Respekt und meine
Dankbarkeit für Eure Arbeit und Engagement.
Wo erhalten diese Menschen „Anerkennung des Leids“, dass sie auf und mich sich nehmen?
Wir, die das Glück haben, eine(n) (Ehe-)Partner(in) an unserer Seite zu haben, die uns stützen und im Leben
verankern, dürfen uns glücklich schätzen. Doch unsere Partner/innen leiden leise, genau wie unsere Kinder.
Wo erhalten unsere Partner/innen und Kinder „Anerkennung des Leids“, dass sie auf sich nehmen?
Wut oder gar Hass? Habe ich auf meinen Täter nie empfunden.
Als ich mir letztes Jahr, nach reiflicher Überlegung, den Film „Gedankt sei Gott“ angesehen habe, war ich erstaunt,
mit wie viel davon ich mich identifizieren kann. Es steckt so unglaublich viel Wahrheit in diesem Film, das Verhalten
der Betroffenen, der Eltern, der Kirche. Gerade die Schlusseinblendung führte mir vor Augen wie sehr sich die Kirche
einer echten Aufarbeitung widersetzt und sich der Justiz entzieht.
Wieso stehen nicht viel mehr der „Oberen“ als Mitwisser und für das Verschweigen und Verschleiern von Straftaten
unter Anklage?
Wie viele Missbrauchsfälle hätten verhindert werden können, wenn die Bistümer ihre Mitarbeiter rigoros der Justiz
gemeldet hätten, statt sie zu versetzen?
Wie viele Kinder hätten dadurch Ihre Kindheit leben können und Ihrerseits ein erfülltes und glückliches
(Familien-)Leben führen können?
Wie viele Missbrauchsfälle hätten wie vielen Eltern, Geschwistern, Freunden, Polizisten, Anwälten, Richtern,
ehrenamtl. Arbeitern, Psychologen etc. erspart bleiben können?
Wut? Ja, das ist es was mich heute unsagbar wütend macht.
Gerade jetzt ist diese Wut für mich konstruktiv, sie hat mich dazu gebracht, mich ein wenig aufzurichten. Ich kann
durch sie diesen Text verfassen und ich werde durch sie wieder lernen gerade zu stehen und mich nicht mehr
wegzuducken.
(Auch wenn ich noch nicht so weit bin, meinen vollständigen Namen hierunter zu setzen.)
Heute muss ich mir die Fragen stellen,
wie viele Kinder kamen nach mir/uns?
Wie vielen Kinder habe ich, durch meine Jahre des Schweigens, ihrer Kindheit und ihrer Zukunft beraubt?
Euch Allen da draußen, ob Opfer oder Helfer, wünsche ich die Kraft weiterzumachen!
Danke den Helfern und Freiwilligen die sich für uns einsetzen.
Meine Hochachtung und Wertschätzung gilt allen Betroffenen, die sich bereits öffentlich zu erkennen gegeben
haben und der stillen Menge eine Gesicht geben.
Christian