Fünf Jahre MHG-Studie

Die unendliche Saga der Aufarbeitung des katholischen Missbrauchsskandals in Eigenregie muss endlich beendet werden – Parlamente sind in der Verantwortung!

Die am 25. September 2018 der Öffentlichkeit vorgestellte Studie eines Forschungsprojekts von Hochschulen in Mannheim, Heidelberg und Gießen zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker der katholischen Kirche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (kurz: MHG-Studie) markierte einen Einschnitt in der schier unendlichen Saga der Aufklärung des katholischen Missbrauchsskandals nach 2010.

Zum ersten Mal war klar ersichtlich, dass es eben nicht um „bedauerliche Einzelfälle“ ging. Sexueller Kindesmissbrauch, seine Vertuschung und aktiver Täterschutz hatten in der katholischen Kirche in Deutschland System.

Was acht Jahre zuvor, als der katholische Missbrauchsskandal das Land monatelang beschäftigt hatte, nicht gelungen war, sollte jetzt endlich möglich werden: Ursachen, Strukturen und Bedingungen für tausendfacher sexueller Kindesmissbrauch durch Priester herauszuarbeiten und die Verantwortlichen für den Schutz der Täter zu identifizieren. Die Opfer von Missbrauch und Vertuschung, die 2010 noch weitgehend enttäuscht wurden, fassten neue Hoffnung, auch im Hinblick auf eine angemessene Entschädigung.

Fünf Jahre später müssen wir leider feststellen: Die Decke, unter der die Verbrechen der Täter und ihrer Beschützer gehalten wurden, wurde nur kurz gelüftet. Eine Wende gelang nicht. Die Erschütterung, die durch die MHG-Studie ausgelöst wurde, reichte dazu nicht aus.

Die Forschenden selbst hatten gefordert, dass ihre Arbeit, die auf der anonymisierten Auswertung von Personalakten durch Kirchenmitarbeiter beruhte, durch eine konkrete und umfassende Untersuchung der Akten selbst fortgeführt werden müsste, verbunden mit der Anhörung von Betroffenen. Diese Forderung an Politik und Öffentlichkeit verhallte ungehört.

Bis heute ist die Aufarbeitung des katholischen Missbrauchsskandals in Deutschland daher nur Stückwerk und erfolgt weitestgehend in Eigenregie. Es verwundert daher nicht, dass weder die Zahl der Täter (und Täterinnen) klar ermittelt wurde, noch gar die der Opfer. Die zahlreichen Fälle in Einrichtungen von katholischen Ordensgemeinschaften blieben weitgehend außer Betracht, obwohl der Skandal 2010 in den von Ordensgemeinschaften wie den Jesuiten geführten katholischen Schulen seinen Ausgang genommen hatte.

Die nach 2018 von Bischöfen selbst eingesetzten Gutachter sowie ehrenamtlich operierende Aufarbeitungsgremien, die in einzelnen Bistümern berufen wurden, bemühen sich redlich. Doch scheitern sie an den Bedingungen, unter denen sie arbeiten sollen. Letztlich entscheidet der Auftraggeber, welche Unterlagen er den Gutachtern zugänglich macht. Ob dabei absichtlich oder versehentlich Informationen vorenthalten werden, ist letztlich zweitrangig. Oder die Veröffentlichung der Ergebnisse wird gleich ganz unterbunden, wenn sie den bischöflichen Auftraggebern nicht gefallen. Anstelle konkreter Verantwortungsübernahme ist nun oft „das System“ Schuld.

Das Misstrauen der Betroffenen und der Öffentlichkeit nimmt zu. Die jüngsten Vorgänge um den Essener Kardinal Hengsbach haben gezeigt, dass auch nach 2010 weiterhin Akten zwischen Bistümern hin und her geschoben werden. Die von der MHG-Studie belegte systematische Praxis des Versetzens auch zwischen Bistümern und über Landesgrenzen hinweg, behindert weiterhin die Aufklärung, weil ein bistumsübergreifender Ansatz fehlt. Dass zum umfassenden Täterschutzprogramm auch der Transfer in Länder des globalen Südens gehörte, ist ebenfalls nur in Ansätzen untersucht.

Die unzureichende Aufklärung belastet die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates. Tausende von Verbrechen bleiben durch die inzwischen eingetretene Verjährung strafrechtlich ungesühnt. Die Täter profitieren weiterhin von der Anonymität.  Ihre Netzwerke werden nicht offengelegt. Vor allem aber bleibt das von uns sogenannte „zweite Verbrechen“ unaufgeklärt: Die systematische Verschleierung und der aktive Täterschutz durch Bischöfe und Verantwortliche.  Stattdessen entsteht ein Flickenteppich an Untersuchungen, hinter der die Verantwortung verschwindet. Das gilt auch für die Begünstigung durch die Justiz, die lange Zeit nicht so genau hingeschaut hat, wenn es um kirchliche Verbrecher ging.

Wir erneuern daher unsere Forderung an die Parlamente in Bund und Ländern: Nehmen sie ihre Verantwortung an, setzen sie unabhängige Untersuchungskommissionen ein, die kirchlichen Akten direkt untersuchen und Betroffene sowie Zeitzeugen und Zeitzeuginnen anhören!

Auch wenn immer mehr Opfer den Tag nicht mehr erleben werden, noch ist es nicht zu spät: Die Aufklärung von tausenden Verbrechen an Kindern durch Kleriker und der systematische Schutz der Täter durch Verantwortliche der katholischen Kirche kann noch gelingen.