Expertise zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung

Das Autorenteam um Professor Fegert (Jelena Gerke, Andrea Kliemann, Martin Pusch, Stephan Rixen, Cedric Sachser) hat im Auftrag der UBSKM die folgende Expertise zur kritischen Überprüfung der Nullhypothese veröffentlicht.

In Verfahren im Kontext sexualisierter Gewalt, in denen aufgrund fehlender Beweismittel Aussage gegen Aussage steht, wird häufig die Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung – also die aussagepsychologische Begutachtung der Aussage der betroffenen Person –angewandt, um dem Gericht eine sachgerechte Beurteilung zu ermöglichen. Diese Methode und die dabei herangezogene sogenannte „Nullhypothese“ stellen eine belastende Situation für die Betroffenen und somit einen erschwerten Tat- und Schuldnachweis dar, insbesondere wenn die sexuelle Gewalt vor geraumer Zeit und/oder über einen langen Zeitraum erlebt wurde. Die sogenannte „Nullhypothese“ wurde vom BGH vor über 20 Jahren in einem Urteil als Qualitätskriterium für aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtungen in Strafverfahren benannt, was im Anschluss tatsächlich zu einer Verbesserung der Qualität der Glaubhaftigkeitsbegutachtung geführt hatte, aber auch mit Missverständnissen in der Begrifflichkeit und daher mit einer falschverstandenen Wissenschaftlichkeit und Sicherheit einhergegangen ist.

Die vorliegende Expertise hinterfragt aus wissenschaftlicher Perspektive der Psychologie, der Psychiatrie und der Rechtswissenschaft deshalb diese Methode und benennt Limitationen und Einschränkungen. Dafür wird die Methode in ihrer Theorie und Anwendung von verschiedenen Seiten beleuchtet: So werden insbesondere Rechtsprechungen unterschiedlicher Gerichtszweige, sowie das Spannungsverhältnis von „Therapie und Glaubhaftigkeit“ vor dem Hintergrund empirisch gestützter traumafokussierter Psychotherapieverfahren diskutiert; die Anwendung der Glaubhaftigkeitsbegutachtung wird hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen/statistischen Methodologie eingeordnet und von Betroffenen berichtete Erfahrungen mit der Gutachtensituation sowie die Rechte der Geschädigten werden näher beleuchtet. So wurde im Rahmen der Arbeiten an der Expertise sehr deutlich, dass durch die Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung unter Anwendung der sog. „Nullhypothese“ insbesondere solche Personen von ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) weitestgehend ausgeschlossen und damit in ihren Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Rechte – sowohl als Geschädigte in Strafverfahren als auch z. B. bei der Beanspruchung einer sozialen Opferentschädigung oder als betroffene Minderjährige in familiengerichtlichen Verfahren – unzulässig eingeschränkt werden, die in ihren Äußerungsfunktionen beeinträchtigt sind sowie solche, die aufgrund schwerer Gewalttaten besonders umfangreiche psychiatrische Tatfolgen erleiden. Doch auch dann, wenn keine Einschränkungen der Aussagefähigkeit vorliegen, führt der Umgang mit Betroffenen in Verfahren und die Anwendung der hier diskutierten Vorgehensweisen letztendlich zu einer nicht hinreichenden Berücksichtigung der Aussagen von Betroffenen im Gerichtsverfahren selbst. Eine verstärkte Zusammenarbeit in Forschung und Praxis der Bereiche Psychotherapie und Aussagepsychologie wird als zwingend erforderlich angesehen, um das unbeeinflusste Aussageverhalten nicht über das gesundheitliche Wohlergehen der Betroffenen zu stellen.

Die vorliegende – überfällige – wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung unter Anwendung der sog. „Nullhypothese“ kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass diese bisher nicht als eine qualitative Methode verstanden worden ist, sodass die darauf basierenden aussagepsychologischen Resultate gerichtlicherseits mit falscher Sicherheit im Sinne eines „entspricht der Wahrheit“ vs. „entspricht nicht der Wahrheit“ interpretiert werden konnten, wodurch einer Vorverlagerung der unabhängigen richterlichen Beweiswürdigung in den Bereich des Sachverständigenvortrags Tür und Tor geöffnet wurde. Eine Ergebnispräsentation, die dagegen explizit die tatsächliche qualitative Aussagekraft einer solchen Begutachtung mit ihren Grenzen und Unsicherheiten darstellt, würde die Beweiswürdigung bei den Gerichten belassen. In der Expertise wird zudem deutlich, dass die Mängel der Methode nicht ausreichend bekannt sind – und dass sie insbesondere im Sozialen Entschädigungsrecht sowie im zivilrechtlichen Kontext „analog“ und zu unkritisch angewandt wird. Eine kritische Reflexion der vor über 20 Jahren beschriebenen Methode der Glaubhaftigkeitsbegutachtung und der dabei verwendeten sogenannten „Nullhypothese“ sowie eine begriffliche Schärfung und wissenschaftstheoretisch korrekte Verwendung des qualitativen, d. h. text-analytischen Verfahrens kann zu faireren Verfahren für Betroffene von (Sexual-)Straftaten in den verschiedenen rechtlichen Zusammenhängen (insb. Strafrecht, Soziales Entschädigungsrecht und Familienrecht) führen. Insbesondere außerhalb des Strafrechts ist eine solche Reflexion zwar fordernd, aber angezeigt.

– Jörg M. Fegert, Jelena Gerke, Andrea Kliemann, Martin Pusch, Stephan Rixen, Cedric Sachser – März 2024

Vollständiges Dokument zur Glaubhaftigkeitsbegutachtung