Eckiger Tisch – ein Jahr danach
Von Matthias Katsch
Persönliche Bilanz
Die Katastrophe, die über uns hereinbrach als wir Kinder waren, Jungen, Schüler an einer Einrichtung der katholischen Kirche, hat uns tief verletzt, hat mich tief verletzt. Wir wurden allein gelassen. Die Taten schienen uns unbegreiflich, doch sie geschahen nicht isoliert, sondern im Rahmen einer Institution, die – wie wir nun wissen − in der Folge alles daran setzte, die Täter zu schützen. Die Taten sollten nicht bekanntwerden, nicht als Verbrechen benannt werden. Sie wurden beschwiegen. Und wir Kinder hatten keine Sprache dafür.
Wie ein Gift, das man nicht abführen kann, kapselten wir die Tat zusammen mit unserer Scham und unserer Wut in uns ein. Dieses Giftdepot schlummerte viele Jahre unentdeckt in uns. Wir zeigten Symptome, wir ließen uns behandeln, aber wir stießen nicht zum Grund vor, sondern blieben an der Oberfläche. Kein Therapeut oder Arzt fragte nach dem Offensichtlichen. Denn wir waren Männer geworden. Und Männer sind keine Opfer sexueller Gewalt. Auch wenn sie mal kleine Jungen waren.
Vor über einem Jahr haben wir unter Schmerzen begonnen, dieses Gift in uns freizulegen und zu entsorgen. Wir haben begonnen den Folgen nachzuspüren, unsere Biographien neu zu lesen, unsere Beziehungen zu ordnen. Das fordert viel Kraft und Energie. Es tut weh, es strengt enorm an: wir schliefen monatelang schlecht, wir träumten und in unseren Träumen begegneten uns die Schatten der Vergangenheit. Wir mussten Gespräche führen, Therapien aufnehmen. Wir sind mit unserer Kraft am Ende. Was wir jetzt noch an Energie mobilisieren können, das stecken wir in den Neuanfang.
Auch deshalb ist es so still geworden von uns in den letzten Wochen. Zugleich sind wir immer noch empört darüber, wie unsere Dialogangebote missachtet wurden, und unsere Forderungen nach Hilfe und Genugtuung stattdessen mit symbolischen Anerkennungsgesten beantwortet werden.
Der Kern des Skandals 2010
Wir haben angefangen zu sprechen. Damit haben wir in diesen 14 Monaten viel zur einer breiten Diskussion und Auseinandersetzung über sexuelle Gewalt und Missbrauch beigetragen. Vieles wurde gesellschaftlich angestoßen und aufgedeckt. Doch zugleich wurde der Ausgangspunkt des Skandals dabei immer weniger kenntlich: Eine der angesehensten Institutionen der Welt hat über fünf, sechs Jahrzehnte − soweit noch Zeitzeugen leben − in systematischer Weise Fälle sexueller Gewalt in ihren Einrichtungen verdeckt, und dafür gesorgt, dass den Opfern nicht geholfen wurde. Stattdessen wurden die Täter geschützt und bis in die Gegenwart hinein die Sorge um das Ansehen der Institution über die Hilfe für die Opfer gestellt.
Die Aufarbeitung dieser dunklen Vergangenheit geschah auch keineswegs aus der Institution heraus, wie der stetig wiederkehrende Hinweis auf den Brief des Rektors des Berliner Canisius Kollegs an Altschüler seiner Schule vom Januar 2010 suggeriert, der gemeinhin als Ausgangspunkt für die mediale Berichterstattung gilt.
Vielmehr waren es die Opfer selbst, die die Enthüllung angestoßen haben, indem sie zu sprechen begannen. Übrigens genauso wie im Falle der Odenwaldschule, wo bereits 1991 Schüler versucht hatten, den Vorhang wegzuziehen, aber damals am mangelnden Aufklärungswillen der Schulträger und der medialen Öffentlichkeit gescheitert waren.
Den Unterschied zum Canisius Kolleg 2010 war, dass die Verantwortlichen angesichts der Massivität der Vorwürfe sich nun tatsächlich zur Offenheit entschlossen. „Wir glauben euch“ – das war der entscheidende Satz. Was dann folgte war eine Welle der Enthüllungen – von den einen als Tsunami erlebt, von den anderen als befreiende Woge begrüßt, die all den Unrat, die Unwahrheit hinweg schwemmte. Jedenfalls speiste sich diese Flut aus der Entschlossenheit der Betroffenen, zu sprechen.
Zwiespältiges Fazit
Achtzehn Monate später ist das Fazit aus Sicht von Betroffenen dennoch bitter. Der Prozess der Aufklärung ist zwar in die Breite gegangen und hat viele Bereiche erfasst und in den Blick geholte: Einrichtungen und Institutionen vor allem der katholischen Kirche, weltliche Schulen und Internate, Sportvereine, Behindertenheime, und das weite Feld des Missbrauchs im familiären Nahbereich. Aber zugleich schien uns die Analyse an der Oberfläche zu bleiben und nicht in die Tiefe zu gehen.
Viele Parallelwelten konnten aufgehellt werden. Andere sind kaum gestreift worden. Es wird nach wie vor relativiert und kleingeredet. Wir sind weit davon entfernt, den Schutz vor sexueller Gewalt in Institutionen zu einem fundamentalen Anliegen zu machen, das sich in den Strukturen und Verfahren dieser Einrichtungen niederschlägt.
Für den Bereich der katholischen Kirche heißt das zum Beispiel:
- Die fehlende Transparenz in kirchlichen Einrichtungen, die das Blackbox−Verhalten von Institutionen begünstigt und unterstützt, besteht fort.
- Über die Gefährdungen einer solchen Parallelwelt, die den Kindern im Falle eines Missbrauchsgeschehens keinen Ausweg läßt − weil nicht sein kann, was nicht sein darf − darüber wird nicht diskutiert.
- Die problematische Position des Priesters als über alle Kritik erhabener „Vater“, dessen Stellung umso unumschränkter erscheint, je mehr er dem Ideal charismatischer Führung nahekommt − dies wird nicht aufgearbeitet.
- Auch über die Verheerungen der verdrängten und diskriminierten Sexualität wird möglichst nicht gesprochen, stattdessen auf die Gefährdungen durch vermeintliche oder tatsächliche Auswüchse der sexuellen Befreiung in der säkularer Gesellschaft hingewiesen, womit man sich dann gleich wieder selbst bestätigt, dass eine Diskussion gar nicht nötig ist.
Ein großes Missverständnis herrscht bei manchen Verantwortlichen in der Kirche auch immer noch über das Verhältnis von Missbrauch in Institutionen und Familien. Im Einzelfall in der Familie missbraucht ein Täter ein Kind oder einige Kinder viele Male, in den kirchlichen Institutionen gelang es den Tätern viele Kinder über viele Jahre hinweg zu missbrauchen. Dennoch wird immer noch die These von den Einzeltätern vertreten, um zu begründen, dass systemische Fragen gar nicht gestellt werden müssen. Doch es ist kein Zufall, sondern traurige Regelmäßigkeit, dass weltweit in Einrichtungen der katholischen Kirche Serientäter auftraten, die dutzende und hunderte von Kindern missbraucht haben, während aus anderen Institutionen tatsächlich vor allem Einzelfälle bekannt werden.
Dennoch wird immer noch in apologetischer Absicht argumentiert, dass ja absolut gesehen die meisten Missbrauchsfälle im familiären Nahraum vorkommen – als ob dies die Fälle in den Institutionen irgendwie verringern würde. Jedoch: wir fangen ja gerade erst an, wahrzunehmen, wie viele Fälle von Missbrauch in Institutionen es gab und schlimmstenfalls immer noch gibt. Am Ende könnten sich die bisherigen Annahmen, die von weit über 90 Prozent der Fälle in familiären Nahbereich ausgingen, genauso als falsch erweisen, wie der Mythos, dass weit überwiegend Mädchen Opfer werden von sexueller Gewalt werden. Denn im letzten Jahr haben wir als gesellschaftliche Neuigkeit wahrgenommen, dass Jungen in erhebliche Zahl Opfer von sexueller Gewalt werden− gerade in Institutionen. Die Tabuzonen haben wir dabei noch nicht einmal in den Blick genommen: geschlossene Heime, Krankeneinrichtungen und Jugendgefängnisse.
Wie auch immer: gerade Kinder und Jugendliche, die in ihrem familiären Umfeld zu Opfern werden, sind darauf angewiesen, dass die Institutionen, in denen sie sich außerhalb der Familie bewegen, auf die Signale der Kinder achten. Das kann im Kindergarten oder in der Schule sein.
Institutionen, die selbst achtsam und transparent sind, sind am ehesten geeignet Vertrauen zu wecken, Anlaufstelle zu sein, und Unterstützung anzubieten, gerade für Kinder und Jugendliche, die möglicherweise in ihrem Nahfeld Opfer werden. Aufmerksamkeit für die Signale, die Kinder aussenden, denen Gewalt angetan wird, verlangt sensibilisierte Institution, die sich mit ihren eigenen Gefährdungen auseinandergesetzt haben. Zur wirksamen Prävention gehört daher die aktive Auseinandersetzung mit dem institutionellen Versagen der Vergangenheit.
Was wir brauchen, was wir fordern
Seit dem wir angefangen haben in der Öffentlichkeit über das zu sprechen, was uns von Priestern und Verantwortlichen der Katholischen Kirche angetan wurde, fordern wir stets drei Dinge: Aufklärung, Hilfe und Genugtuung. Daran hat sich auch nach über 14 Monaten nichts geändert.
Für das was geschehen ist, gibt es keine Wiedergutmachung. Zum einen weil die Tat nicht ungeschehen gemacht werden kann, aber vor allem, weil die Zeit, die seit dem vergangen ist, nicht zurückgedreht werden kann. Das heißt aber nicht, dass im Umkehrschluss keinerlei Entschädigung zu zahlen wäre. Eine Anerkennungsleistung – Anerkennung wofür? – schafft keine Genugtuung sondern setzt neue Empörung
Daneben geht es aber auch um eine Haltung des Zuhörens und des Respekts. Um die Frage: was würde euch helfen? – die nie gestellt wurde, in der Vergangenheit nicht, und auch jetzt nicht. Also müssen wir weiterhin fordern. Um uns Gehör zu verschaffen, müssen wir die Öffentlichkeit einsetzen. Es ist das sicher keine neue Erfahrung für eine Betroffenengruppe, aber es ist erstaunlich, wie diese Mechanismen sich stets wiederholen.
Dialog und Diskurs über die Vergangenheit zu sprechen ist nicht einfach. Von den Vertretern der Kirche ist dieser Tage oft zu hören, wie sehr sie sich jetzt der Zukunft zuwenden wollen. Aber die Opfer leben leider mit den Schatten der Vergangenheit weiter. Zur Bewältigung gehört aber das offene Wort dazu. Wir haben die Treffen am Eckigen Tisch als befreiend erlebt. Leider gibt es bis heute kein Forum, in dem sich kirchliche Missbrauchsopfer und Vertreter der Kirchenleitung begegnen.
Man spricht allenfalls über den Missbrauch und das Leiden der Institution als mit den Betroffenen. Auch vom anstehenden Papstbesuch sind bisher keine Signale des Dialogs bekannt.
Was wir also (immer noch) fordern:
Aufklärung
Unabhängige Dokumentation der Vergangenheit, Aufarbeitung und institutionelle Reformen, die einer Wiederholung vorbeugen: das gehört zusammen. Bisher gibt es dazu erst Ansätze,. Nach dem Blick in die Breite fehlt jetzt die Tiefe.
Dazu gehört auch die Schaffung einer nationalen Beauftragten, ähnlich dem Datenschutzbeauftragten. Eine solche Stelle sollte auch den zahlreichen Selbsthilfegruppen und −einrichtungen als Ansprechpartner im politischen Raum dienen. Diese/er unabhängige Bundesbeauftragte soll sowohl für die Vergangenheitsbewältigung als auch für die Prävention Impulse geben, als Anlaufstelle fungieren und wie ein weithin sichtbarer Leuchtturm die Bereitschaft in die Gesellschaft, sich diesem schwierigen Thema zu stellen, aussenden, um so den Opfern von gestern und heute zu signalisieren: Wir sind für euch da!
Hilfe
Wir schlagen die Einrichtung einer Art Opfer−Genesungswerk vor, das Betroffenen von sexueller Gewalt bei der Bewältigung des Traumas Unterstützung gewährt, Hilfen vermittelt, sowie jenseits und in Ergänzung der etablierten Hilfesystem, Coaching und Begleitung anbietet bei der Lebensbewältigung. Dieses Werk sollte co−finanziert werden von den Institutionen, in denen Kinder nicht ausreichend geschützt waren und Täter zu lange gedeckt wurden. Darüber hinaus sollten Bund und Länder sich zu einer ausreichenden Finanzierung und Ausstattung von Selbsthilfeeinrichtungen und Initiativen bekennen.
Genugtuung
Eine angemessene Entschädigung, die sich daran orientiert, was den Opfer nützt und hilft und nicht daran, was sich die Institution der Täter leisten will, ist nach wie vor geboten.
Institutionen wie die katholische Kirche mit ihren Gliederungen sollen dabei nicht stellvertretend für den Täter haften, sondern für ihren eigenen Anteil. Hier liegt der Unterschied zu den familiären Opfern, da dort in der Regel nur der unmittelbare Täter Verantwortung trägt. Gemeinsam ist allerdings beiden Situationen, dass die Umwelt, und dass heißt die Gesellschaft ein Mit−Verantwortung trifft für das Wegsehen. Deshalb sollte die Gesellschaft bei diesem Ausgleich mithelfen.
Die Festlegung dieser Entschädigungsleistung für die straf− und zivilrechtlich verjährten Alt−Fälle sollte durch eine unabhängige Kommission und nicht durch die Institutionen selbst erfolgen, um somit auch eine Befriedung im Verhältnis zu den Opfern dieser Institutionen zu erreichen.
Für die Zukunft braucht es zur Stärkung der Präventionsanstrengungen eine Haftung von Institutionen analog der Haftung von Unternehmungen im Umweltrecht.
Zum Schluss: Was wir uns vom Papst wünschen…
Im Herbst 2011 wird das Oberhaupt der katholischen Kirche Deutschland besuchen und dabei im Bundestag auftreten. Wir wünschen uns dabei keine weiteren Entschuldigungserklärungen, sondern ein echtes Gesprächsangebot, einen Dialog von Betroffenen und Kirchenoberhaupt.
Dabei würden wir gerne einen Satz hören, den wir so bitter vermissen und den wir in den vergangenen Monaten von keinem verantwortlichen Kirchenmann hier in Deutschland gehört haben:
„Ich übernehme Verantwortung“
Denn es geht um die Verantwortung der Institution Kirche für das, was in ihr und durch sie geschehen ist: Für das Versagen, für das Nicht−Verhindern, für das Verheimlichen, für nicht durchbrochene Ketten weiterer Taten, für das Nicht− Helfen, Nicht−Kümmern um die Opfer, für das Schützen der Täter. Dafür reicht Bedauern nicht aus. „Buße genügt nicht“, haben wir in Paderborn versucht den Bischöfen zu sagen. Verantwortung übernehmen, heißt, den Betroffenen zu helfen, ihre Last zu tragen. Darüber würden wir gerne mit Benedikt XIV. sprechen.
Berlin, 08. Juli 2011