Der Zauberlehrling
Joseph Ratzinger verkörperte die klerikale Herrschaft der Priesterschaft in der katholischen Kirche wie kein zweiter. Den tausenden von Missbrauchsopfern seiner Kirche in aller Welt wird er in unguter Erinnerung bleiben als langjähriger Verantwortlicher jenes Systems, dem sie zum Opfer fielen.
Der als empfindsam und hochbegabt beschriebene Theologe gehörte seit früher Jugend zu der kleinen Kaste, die ein (vorgebliches) Leben ohne Sex und Beziehung gegen Macht, Schutz und lebenslange Versorgung eintauschen, um die mehr als eine Milliarde Katholikinnen und Katholiken zu regieren.
Wie der Zauberlehrling, der nur das vermeintlich Gute will und dabei doch das Böse bewirkt, hat er seine Kirche immer weiter in die Krise gesteuert. Und als er erkennen musste, dass er die Kräfte, mit denen er sich verbündet hatte, um sein Amt zu übernehmen nicht mehr unter Kontrolle hatte, ist er schließlich zurücktreten.
Er hat Schuld auf sich geladen, als er als Bischof von München einen notorischen Missbrauchspriester wieder in den Pfarrdienst brachte, wo dieser Serientäter in der Folge jahrzehntelang weitere Kinder missbrauchte.
Diese Großzügigkeit gegenüber Tätern hat er auch bei anderen Fällen gezeigt, die ihm in seinen 25 Jahren an der Spitze der Glaubensbehörde in Rom bekannt wurden. Er zeigte große Milde selbst mit schlimmsten Verbrechern wie dem Priester Murphy der viele gehörlose Kinder missbraucht hatte und nicht aus dem Priesterstand entlassen wurde, um dem inzwischen erkrankten Verbrecher die letzten Tage nicht zu beschweren. Theologischen Abweichlern und Befreiungstheologen begegnete er hingegen mit administrativer Kälte und Empathielosigkeit.
Er trägt die Verantwortung dafür, dass Meldungen über sexualisierter Gewalt aus aller Welt im Vatikan abgelegt und zugleich vor der weltlichen Justiz versteckt wurden, weil er die Akten dieser Fälle an seine überforderten Mitarbeiter in Rom übermitteln ließ.
Er hat sich mit ausgewählten Betroffenen hinter verschlossenen Türen getroffen, aber die systemische Qualität dieser Verbrechen nie verstanden oder akzeptiert. Es blieben alles bedauerliche Einzelfälle, die von der bösen Welt gegen die gute Kirche instrumentalisiert wurden.
Uneinsichtig bis zum Schluss erkannte er nicht die ungesunde vormoderne Sexualmoral seiner Kirche als Wurzel des Übels des Kindesmissbrauchs durch Priester, sondern schob die Verantwortung stattdessen der Gesellschaft zu, die sich gegen den erbitterten Widerstand der Amtskirche seit den 60er Jahren von diesem kranken Verständnis von menschlicher Sexualität frei gemacht hatte.
Eine besondere Verantwortung trifft ihn im Falle des Erzverbrechers Marcial Maciel, des Gründers der Ordensgemeinschaft Legionäre Christi. Obwohl er aus erster Hand von den Missbrauchstaten des als heilig verehrten Ordensgründers wusste, wagte er nicht gegen seinen Förderer Johannes Paul II. und dessen korrupten Kardinalstaatssekretär Sodano aufzumucken und stellt die Ermittlungen ein, bis der polnische Papst im Sterben lag und er selbst sein Nachfolger geworden war. Dann verurteilte er Maciel zu einem „Leben in Buße und Schweigen“. Wobei er peinlich darauf achtete, ja nichts von dem zusammengeschnorrten Milliardenvermögen des als „Witwenschüttler“ berüchtigten Mexikaners zu verlieren.
Er wollte seine Kirche erneuern, doch nach seinen Vorstellungen. Dafür hat er Theologen mundtot gemacht und Erneuerungsbewegungen wie in Lateinamerika bekämpft. Er ist zweifelhafte Allianzen eingegangen und hat Milde gegen Verbrecher gezeigt – ein hoher Preis für ein letztlich gescheitertes Vorhaben. Denn am Ende ist die katholische Kirche erneuerungsbedürftig wie nie.
Matthias Katsch