Während Vertreter der deutschen Kirche nicht müde werden, angesichts der Welle von Missbrauchsfällen, die die Kirche weltweit erschüttern, von bedauerlichen Einzelfällen zu sprechen, richtet sich der Blick immer stärker auf die Zentrale dieser Weltkirche.
Papst Johannes Paul II. und einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, der langjährige Chef der Vatikan-Regierung Kardinal Angelo Sodano, haben nach Presseberichten über Jahrzehnte hinweg weltweit ihre schützende Hand über Missbrauchstäter im Talar gehalten. Offensichtlich werden die Vorwürfe gegen den 2005 verstorbenen Papst vom Vatikan für so gravierend gehalten, dass aus der eigentlich für dieses Jahr erwarteten Seligsprechung von JPII wohl erst mal nichts wird.
Sodano, der bei einem Auftritt zu Ostern 2010 auf dem Petersplatz angesichts der in Deutschland bekannt gewordenen Fälle von sexuellen Missbrauch durch Priester und den kritischen Fragen an die Verantwortlichen vom „Geschwätz des Augenblicks“ sprach, wird unter anderem vorgeworfen, den Missbrauchstäter Hermann Groer, seinerzeit Erzbischof und Kardinal von Wien, vor Ermittlungen geschützt zu haben. Der zurückgetretene Erzbischof von Boston, Bernard Francis Law, wurde nach seiner Flucht vor staatsanwaltlichen Ermittlungen in Rom mit einem Ehrenposten betraut und nahm als Kardinal am Konklave 2005 teil, in dem Benedikt XVI. gewählt wurde.
Am gravierendsten erscheinen jedoch die Vorwürfe gegen seinen Vorgänger: Johannes Paul II. persönlich soll den mexikanischen Chef und Gründer der „Legionäre Christi“, Marcial Maciel Degollado, vor Ermittlungen geschützt haben, als dessen jahrzehntelangen Verbrechen an Dutzenden von Kindern und Jugendlichen bekannt zu werden drohten. Erst nach dem Tod des charismatischen Papstes wurde Maciel aus seinem Amt entfernt. Für Ermittlungen der Justiz war er da jedoch schon nicht mehr greifbar, auch von kirchlicher Seite wurde er nicht weiter behelligt – aufgrund seines hohen Alters. So starb einer der schlimmsten Sexualverbrecher der neueren Kirchengeschichte, der nebenbei noch Zeit gefunden hatte, mit zwei Frauen drei Kinder zu zeugen, in Ruhe und Frieden im Exil.
Die von ihm gründeten „Legionäre Christi“ galten als äußerst konservativ und zugleich äußerst vermögend (Vatikan-Spott: „Millionäre Christi“). In Deutschland betreiben die Legionäre mit der Unterstützung des Kölner Kardinals Meisner mehrere Einrichtungen in Bad Münstereifel, Düsseldorf sowie Köln-Deutz (Stand September 2010).
2008 wurde in Bad Münstereifel eine von weltweit zwanzig „Apostolischen Schulen“ eröffnet. Dies geschah mit Genehmigung des Erzbistums Köln, der Bezirksregierung Köln und des Kreisjugendamts Euskirchen. Die Schule steht in der Tradition der Knabenseminare und hat zur Zeit der Gründung 17 Schüler. Das jüngste Kind ist 11 Jahre alt. Die Jungen werden somit innerhalb des Ordens unterrichtet. Im Gegensatz zu diözesanen Priesterseminaren sind die Seminaristen hier Schüler, meist minderjährige Kinder, die nicht studieren, sondern erst auf das Abitur vorbereitet werden. Die Kinder sollen in ihrer „Berufung“, Priester zu werden, gestärkt werden.
Hier zeigt sich eine Parallelgesellschaft der besonderen Art: Das Himmelreich eines Sexualverbrechers, der sich wie ein Sektenführer, unbehelligt von weltlichen und kirchlichen Autoritäten, seine Nachwuchsbasis organisieren konnte – weltweit vernetzt, mit eigener Moral, eigenen Regeln, weitgehend abgeschottet von der modernen Welt. War den Genehmigungsbehörden der Fall Maciel nicht bekannt?
Hier die aktuellen Berichte aus der deutschen Presse:
„Hürde für die Seligsprechung von Papst Johannes Paul II“ (Südwest-Presse)
„Eine unselige Verbindung“ (FR-Online)
Als Einstimmung zur Heiligsprechung von Pater Klaus Mertes SJ zeigte die ARD am 17. Oktober 2010 die 30minütige Dokumentation „Mit heiligem Zorn“.
Der Film der rbb-Journalistin Margarethe Steinhausen „begleitet den Jesuitenpater bei seinem Kampf um Versöhnung mit den Opfern“ (ARD-Pressetext).
Der Film ist in der ARD-Mediathek abrufbar.
Die Zeitschrift Publik-Forum, die sich als Forum kritischer Christen versteht, berichtet in ihrer aktuellen Ausgabe über den Stand der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an den Jesuiten-Einrichtungen. Wir dokumentieren den Text hier.
Die deutschen Bischöfe und die Ordensgemeinschaften haben heute am Runden Tisch ihre Vorstellungen vorgestellt zu, wie es heißt, materiellen Leistungen „in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde“.
Merkwürdig erscheint der Anspruch, den die Kirche damit verbindet, der Gesellschaft ein „exemplarisches“ Modell vorzuschlagen, das diese übernehmen könne. Offensichtlich haben die Verantwortlichen immer noch nicht verstanden, dass es zu zuallererst um ein Problem der Kirche geht: ihres Personals, ihrer Strukturen und ihrer Lehre. Bevor sie die Missbräuche für sich bearbeitet hat, will sie der Gesellschaft schon wieder Ratschläge geben.
In einer ersten Reaktion hat die Initiative ECKIGER TISCH, die wie alle anderen Betroffenen am Runden Tisch nicht vertreten ist, dies als zu vage bezeichnet und die Forderungen erneuert, dass die Verantwortlichen der Kirche sich dem Gespräch mit den Opfern an einem „eckigen Tisch “ stellen, um ihr Modell zu erläutern.
Hier der Link zur Presseerklärung der Bischöfe.
Die in Berlin verteilte Erklärung des Sprechers Matthias Katsch findet sich hier.
Ulrike Greim berichtet in ihrem Radiobeitrag (Deutschlandfunk) anschaulich von der Arbeit der „UBSKM“, der Geschäftstelle der „Unab- hängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ Dr. Christine Bergmann.
Das 18minütige Feature kann man hier anhören.
Der Haupt-Missbrauchstäter am Bonner Aloisiuskolleg Ludger Stüper verstirbt und wird beerdigt. Leider ohne sich für sein Handeln vor einer weltlichen Instanz rechtfertigen zu müssen. Der Gottesdienst zu seiner Beerdigung wird von acht Geistlichen gemeinsam zelebriert. Darunter der amtierende Rektor des Aloisiuskollegs und sein Vorgänger.
Beide Herren weichen seit Monaten dem direkten Kontakt mit den Opfern konsequent aus. Rektor Ulrich Rabe SJ erschien nicht nur nicht am Eckigen Tisch, er antwortet nicht mal auf die Einladung. Auch sein Provinzial konnte ihn anscheinend nicht zum Kommen bewegen. Theo Schneider, Rektor bis zum Februar, war einer Einladung an den Eckigen Tisch in Bonn im Juni nicht gefolgt mit der Begründung, in der fraglichen Zeit Nachhilfeunterricht an dem Kolleg geben zu müssen, das er verlassen mußte, weil er im Verdacht steht, jahrelang die Umtriebe von Stüper gedeckt zu haben.
Nickligkeiten? De mortuis nisi bene? Für die Betroffenen, die sehr sensibel auf Zeichen und Zwischentöne reagieren, sind solch klare Signale der Solidarität mit einem Täter, über den Tod hinaus, schwer zu ertragen – zumal wenn sie mit Missachtung der Opfer gepaart sind. Dass die Teilnahme der beiden Nachfolger als Rektoren an der Beerdigung von Stüper keineswegs nur der christliche Nächstenliebe mit einem Sünder geschuldet war, zeigt ein Abschnitt aus der Totenrede, die Rektor Rabe hielt:
“In den letzten Jahren ist aber auch Schatten auf seine Person gefallen. Mit Erschrecken hat er zur Kenntnis genommen, dass sein früheres Fotografieren in manchen Dingen unangebracht war. Er hat zur Kenntnis genommen, dass man jugendliche Seelen auch durch solches unbedachtes Tun verletzten kann Er hat sich bei einigen Betroffenen entschuldigt. Er hat einen Brief an den Provinzial geschrieben, wo er das auch nochmal dargelegt hat und versichert hat, dass er zu keiner Zeit weitergreifende Übergriffe vollzogen hat. Es hat ihn bedrückt. Er hat darunter gelitten, weil Vergebung ihm letztlich nicht genügend gegeben worden ist.”
Keine Einsicht, sondern Relativierung und Verharmlosung, spricht aus diesen Sätzen. Ein weiterer Zelebrant dieser Beerdigung 1. Klasse, war der als Fernsehpfarrer bekannte Monsignore Stephan Wahl aus Trier. Wahl gilt als Kommunikationsstratege des dortigen Bischofs Ackermann, jetzt auch Missbrauchsbeauftragter der deutschen Bischöfe.
Welche Botschaft sollte da ans Ako gesendet werden? Wie sollen das Betroffene verstehen?
Opfer von Stüper haben jetzt reagiert und einen Offenen Brief verfasst, in dem sie die Teilnahme von Wahl hinterfragen und seine Abberufung vom Bildschirm verlangen.
Hier der Text: Offener Brief_Wort zum Sonntag
Auch in den Niederlanden gibt es von Jesuiten durch Missbrauch Geschädigte, eine Reihe von ihnen hat sich untereinander vernetzt und berät zur Zeit das weitere Vorgehen. Die Forderungen ähneln unseren: Zugang zu den Archiven (wird von den Jesuiten verwehrt), eine unabhängige Untersuchung, Hilfe und Genugtuung. Sie arbeiten hier mit Juristen und auch mit den Medien zusammen.
Einer der Täter hieß Jan Sanders, er war bis in die 80er Jahre am Canisius Kollege in Nijmegen tätig. Danach ging er nach Chile und arbeitete dort in einem „Childcarecenter“! Auch hier gab es möglicherweise Geschädigte.
Aus Notizen geht hervor, dass Sanders öfters in deutschen Einrichtungen der Jesuiten zu Besuch war. Die Niederländer bewegt daher die Frage, ob es auch in Deutschland Übergriffe durch Sanders gegeben hat. Wer hier etwas weiß oder gar selbst betroffen ist, kann sich bei mir melden, ich stelle dann einen Kontakt zu unseren holländischen Freunden her.
Thomas Weiner (thomas@viertelnachvier.de)
Die am ECKIGEN TISCH organisierten Betroffenen von Missbrauch in Einrichtungen der Jesuiten haben sich unmittelbar nach dem Treffen mit den Jesuitenvertretern am Samstag an die Deutsche Bischofskonferenz gewandt und um ein Gespräch im Rahmen der jetzt tagenden Vollversammlung in Fulda gebeten.
Lasst uns reden – die Kirche sollte auf die Opfer hören!
Um Unterstützung bitten die Opfer dabei auch den Berliner Erzbischof Kardinal Sterzinsky. Zu dessen Diözese gehört das Canisius-Kolleg, von dem die Welle der Offenbarungen ihren Ausgangspunkt nahm. Eine schriftliche Bitte um Hilfe von betroffenen Schülern war 1981 von damaligen Ordinariat unbeantwortet geblieben.
Eine Antwort der Deutschen Bischofskonferenz steht bisher noch aus.
In einem Interview mit dem ZDF-Morgenmagazin (20.09.2010) erneuerte der Sprecher des ETs Matthias Katsch den Wunsch, mit den Bischöfen ins Gespräch zu kommen.
Interview im ZDF-Morgenmagazin (Video)
Im rbb-inforadio hatte Katsch zuvor über den Verlauf des Treffens vom Samstag informiert.
Interview im inforadio (Audio)
Wer oder was ist der Eckige Tisch eigentlich? Dazu hier eine Selbstdarstellung (Stand Oktober 2010):
Selbstdarstellung_ECKIGER TISCH
Am 18. September sind 50 Betroffene von Missbrauch an deutschen Jesuiteneinrichtungen in Berlin mit den Vertretern des Ordens zum zweiten Mal am Eckigen Tisch zusammengetroffen.
In einer Erklärung hat die Gruppe ECKIGER TISCH heute die Kirche und den Jesuiten- orden aufgefordert, endlich auf die Forderungen der Betroffenen einzugehen und neben Aufklärung und Hilfe eine ange- messene finanzielle Entschädigung anzu- bieten. Das zweite Treffen von Betroffenen und Vertretern des Ordens an diesem Samstag in Berlin gibt dazu Gelegenheit.
ECKIGER TISCH hat sich am 11. September 2010 in einem Schreiben an die Leitung der katholischen Kirche gewandt und Aufklärung gefordert über den Umgang von Missbrauchstätern durch die vatikanischen Behörden.
Konkret geht es um den Jesuitenpater Wolfgang Statt, der 1991 aus dem Priesterstand entlassen werden wollte („Laisierung“) und bei dieser Gelegenheit ein umfängliches schriftliches Geständnis an den Papst gerichtet hat. Statt hatte eingeräumt, in „etlichen hundert Fällen Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts“ missbraucht zu haben.
Wenige Tage nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle an deutschen Jesuiten- schulen erklärte sich die Zentrale der katholischen Kirche für nicht zuständig. Pressesprecher Frederico Lombardi leug- nete, dass dem Vatikan hierzu Informa- tionen vorliegen und erklärte am 2. Februar 2010: „Spezielle Informationen über Vorfälle wie diese haben wir nicht, der Skandal ist uns durch die Medien bekannt.“
Das ist nachweislich unwahr. Die Geschädigten fordern Aufklärung und die Übernahme der Verantwortung durch die Leitung der katholischen Kirche.